Was war der NSU-Komplex? Eine Einführung aus Betroffenenperspektive

Diese Seite bietet eine Einführung in den NSU-Komplex aus der Perspektive der Betroffenen. Im Menü oben finden Sie weiterführende Kapitel – etwa zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004 sowie zum Sprengstoffanschlag 1999 in Nürnberg. Durch das Anklicken der Namen der Ermordeten gelangen Sie zu Artikeln, die ihre Lebensgeschichten und den Kontext der jeweiligen Tatorte sichtbar machen.Ein weiterer Schwerpunkt dieser Website liegt auf der kritischen Auseinandersetzung mit den Versäumnissen von Polizei und Justiz: dem institutionellen Rassismus, der Aufklärung verhinderte, sowie der gesellschaftlichen Verantwortung, die daraus erwächst.

Zwischen 2000 und 2007 ermordete ein rechtsterroristisches Netzwerk in Deutschland zehn Menschen. Neun von ihnen hatten familiäre Wurzeln in der Türkei oder Griechenland: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Die zehnte Person war die Polizistin Michèle Kiesewetter. Hinzu kamen Anschläge in Köln und Nürnberg, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden, sowie 15 bewaffnete Raubüberfälle.1
Diese Verbrechen wurden vom sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) verübt. Der Begriff „NSU-Komplex“ bezeichnet nicht nur die Taten selbst, sondern auch die weitreichenden Versäumnisse und Verstrickungen von Sicherheitsbehörden, Justiz, Medien und Politik. Zentral ist dabei die Tatsache, dass die Mordserie über Jahre hinweg nicht als rechter Terror erkannt wurde. Stattdessen wurden die Angehörigen der Ermordeten von der Polizei unter Generalverdacht gestellt. Rassistische Motive galten lange als ausgeschlossen.2
Die Angehörigen und Überlebenden mussten nicht nur die unmittelbare Gewalt ertragen, sondern auch die gesellschaftliche Stigmatisierung und das institutionelle Versagen. Viele forderten jahrelang Gerechtigkeit und Aufklärung – oft gegen den Widerstand von Behörden und Öffentlichkeit. Erst die Selbstenttarnung des NSU im November 2011 führte zur offiziellen Anerkennung der Taten als rechtsterroristisch. Doch viele Fragen zur Rolle von Unterstützer*innen, staatlichen Stellen und zum Ausmaß institutionellen Rassismus sind weiterhin unbeantwortet.3
Zivilgesellschaftliche Initiativen wie das Tribunal NSU-Komplex auflösen oder die Ausstellung Offener Prozess arbeiten seit Jahren daran, die Perspektiven der Betroffenen sichtbar zu machen, kollektives Erinnern zu ermöglichen und institutionellen Rassismus zu benennen. Der NSU-Komplex ist keine abgeschlossene Geschichte, sondern ein Mahnmal für die Notwendigkeit einer antirassistischen und solidarischen Gesellschaft.4

  1. Vgl. Dengler, Pascal/Foroutan, Naika: Die Aufarbeitung des NSU als deutscher Stephen-Lawrence-Moment? – Thematisierung von institutionellem Rassismus in Deutschland und Großbritannien; in: Rassismuskritik und Widerstandsformen hrsg. v. Karim Fereidooni und Meral El, Wiesbaden 2017, S. 429–446.; RAA Sachsen e.V.: Konzeptions- und Machbarkeitsstudie für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Südwestsachsen. Chemnitz 2023. ↩︎
  2. Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: NSU-Komplex; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 37–38/2023, Bonn 9. September 2023.; Dosdall, Henrik: Organisationsversagen und NSU-Ermittlungen. Braune-Armee-Fraktion, Behördenlernen und organisationale Suche; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 47, H. 6, 2018, S. 402–417. ↩︎
  3. Vgl. Dengler, Pascal/Foroutan, Naila: Die Aufarbeitung (sehe oben). ↩︎
  4. Vgl. Kahveci, Çağrı/Sarp, Özge Pınar: Von Solingen zum NSU. Rassistische Gewalt im kollektiven Gedächtnis von Migrant*innen türkischer Herkunft. in: Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. hrsg. von: Juliane Karakayalı, Çağrı Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers, Bielefeld 2017. ↩︎