Rassismuskritische Aufarbeitung des NSU-Komplexes: Zwischen Erinnerung, Widerstand und Verantwortung

Die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) steht exemplarisch für den Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit rechtem Terror und institutionellem Rassismus. Die juristische Aufarbeitung im Münchner NSU-Prozess (2013–2018) sowie mehr als ein Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse haben zwar zahlreiche Fakten zutage gefördert – insbesondere über die Rolle von Verfassungsschutzbehörden und Netzwerke der Unterstützung –, doch viele zentrale Fragen bleiben unbeantwortet. Die gesellschaftliche Aufarbeitung hingegen ist maßgeblich von den Betroffenen selbst sowie von zivilgesellschaftlichen Initiativen getragen worden.

Warum Chemnitz? Ein Ort der Täter – und des Widerstands

Chemnitz spielt im NSU-Komplex eine zentrale Rolle. Nach dem Abtauchen 1998 lebten die Täter zunächst in Chemnitz und wurden unterstützt von einem dichten neonazistischen Netzwerk. Die Stadt war ein Rückzugsort für den NSU, ein logistischer Knotenpunkt, an dem Raubüberfälle vorbereitet wurden und Unterstützer*innen aktiv waren.1 Die Entscheidung, ein Dokumentationszentrum in Chemnitz zu errichten, ist somit nicht zufällig: Sie folgt der Forderung, Orte der Täter nicht anonym zu lassen, sondern durch Aufarbeitung und kritische Bildungsarbeit zu kontextualisieren.

Zugleich leben in Chemnitz Menschen, die von rassistischer Gewalt betroffen waren und sind. Dass hier auch die bundesweit beachtete Ausstellung Offener Prozess entstand – ein interdisziplinäres Dokumentationszentrum zum NSU Komplex zu Perspektiven der NSU-Betroffenen –, ist Ausdruck eines vielstimmigen zivilgesellschaftlichen Engagements vor Ort. Das am 25.05.2025 eröffnete Dokumentationszentrum greift diese Erfahrungen auf und verankert sie dauerhaft in der Stadt.2

Inhaltliche Ausrichtung des Dokumentationszentrums

Das Zentrum verfolgt einen interdisziplinären und partizipativen Ansatz. Es verbindet Archivarbeit, Forschung, politische Bildungsarbeit, künstlerische Praxis und Betroffenenbeteiligung. Ein zentrales Element ist die „Assembly“ – ein Raum, der Versammlungen und Debatten ermöglicht und damit aktiv in die Gesellschaft wirkt. Darüber hinaus wird ein digitales Archiv aufgebaut, um auch dezentralen Zugang zu ermöglichen.3

Ein wichtiger Aspekt ist die Sammlung und Sichtbarmachung migrantisch situierten Wissens. Denn das Wissen über den NSU-Komplex wurde nicht primär durch staatliche Institutionen, sondern durch Angehörige der Ermordeten, antirassistische Gruppen, NSU-Watch, Nebenklagevertretungen und kritische Wissenschaft geschaffen.4 Dieses Wissen soll im Zentrum dokumentiert, bewahrt und vermittelt werden – als Gegenentwurf zum staatlich beschränkten Narrativ.

Gesellschaftliche Bedeutung und politische Einbettung

Die Notwendigkeit eines solchen Zentrums ist auch politisch anerkannt: Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung (2021) und der sächsischen Landesregierung (2019) wurde die Unterstützung für ein Dokumentationszentrum zugesichert. Vorausgegangen war ein offener Brief von über 190 Initiativen und Einzelpersonen, die ein solches Zentrum forderten.5 Das Zentrum ist damit Ausdruck eines politischen Lernprozesses, aber auch ein Mahnmal für das bisherige staatliche Versagen.

Zivilgesellschaftliche Initiativen: Erinnerung als Widerstand

Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes wurde maßgeblich von der Zivilgesellschaft vorangetrieben. Initiativen wie das Tribunal „NSU-Komplex auflösen!“, NSU-Watch, Keupstraße ist überall, die Bildungsinitiative Ferhat Unvar oder der Offene Prozess haben Räume geschaffen, in denen Gedenken und Kritik zusammenkommen. Diese Projekte haben nicht nur öffentliches Bewusstsein geschaffen, sondern auch konkrete politische Forderungen formuliert – etwa nach Anerkennung institutionellen Rassismus’, nach umfassender Akteneinsicht und nach einer Erinnerungskultur, die nicht exkludiert, sondern inkludiert.6

Fazit: Aufarbeitung als kollektiver Prozess

Die Errichtung eines Dokumentationszentrums in Chemnitz ist ein Meilenstein. Es kann als Resonanzraum dienen für Stimmen, die lange nicht gehört wurden. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, das Zentrum nicht nur als musealen Ort, sondern als lebendigen Teil eines anhaltenden gesellschaftlichen Lernprozesses zu gestalten. Denn die Forderung bleibt: Gedenken ist nicht neutral – es ist politisch. Und die Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist nicht abgeschlossen – sie steht erst am Anfang.

  1. Vgl. RAA Sachsen: Konzeptions- und Machbarkeitsstudie für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Südwestsachsen, 2023, S. 82. ↩︎
  2. Vgl. Ebenda. ↩︎
  3. Vgl. Ebenda. ↩︎
  4. Vgl. Karakayali, Juliane / Kahveci, Çağrı / Liebscher, Doris / Melchers, Carl: Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld 2017, S. 8.; Perinelli, Massimo: Situiertes Wissen vs. korrumpiertes Wissen. Warum die migrantische Perspektive in die Wissenschaft gehört. Und der Verfassungsschutz raus; in: Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. hrsg. v. Juliane Karakayalı, Çağrı Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers, Bielefeld 2017, S. 145–161. ↩︎
  5. Vgl. RAA Sachsen: Konzeptions- und Machbarkeitsstudie für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Südwestsachsen, 2023, S. 32. ↩︎
  6. Vgl. APuZ 37–38/2023: NSU-Komplex. Bundeszentrale für politische Bildung, S. 12–18; Dengler, Pascal / Foroutan, Naika: Die Aufarbeitung des NSU als deutscher Stephen-Lawrence-Moment? ↩︎