Der Anschlag auf das Lokal ‚Sonnenschein‘: Nürnberg 1999
Am 23. Juni 1999 explodierte in der Pilsbar „Sonnenschein“ in der Nürnberger Scheurlstraße ein Sprengsatz, der als Taschenlampe getarnt war. Das Opfer, der damals 18-jährige Mehmet O. (Name geändert), hatte das Lokal erst kurz zuvor übernommen. Beim Reinigen entdeckte er die vermeintliche Lampe auf der Toilette. Als er sie einschaltete, detonierte der selbstgebaute Sprengsatz. Die Druckwelle schleuderte ihn durch den Raum, er erlitt Schnittwunden und Splitterverletzungen, überlebte jedoch nur, weil der Sprengmechanismus nicht vollständig funktionierte.1
Trotz der Schwere des Anschlags und der Tatsache, dass es sich um ein gezieltes Attentat auf eine Gaststätte mit migrantischem Betreiber handelte, schlossen die Ermittlungsbehörden bereits nach weniger als einem Tag ein politisches Tatmotiv aus. Stattdessen geriet Mehmet O. selbst ins Visier der Polizei. Die Ermittlungen richteten sich gegen ihn und sein Umfeld, statt nach rassistischen Hintergründen zu fragen. Die Tat wurde als „fahrlässige Körperverletzung“ eingestuft. Hinweise auf ein rechtsextremes Motiv oder auf organisierte Strukturen wurden ignoriert. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Mehmet O., stigmatisiert und enttäuscht, verließ Nürnberg im Jahr 2004.3

NSU-Opfer Mehmet O. in seinem Wohnzimmer Bildrechte: BR/Jonas Miller (Archiv)
Erst 14 Jahre später, im Rahmen des NSU-Prozesses in München, wurde der Fall erneut relevant. Der Mitangeklagte Carsten S. sagte 2013 aus, dass zwei Mitglieder des sogenannten NSU, ihm gegenüber angedeutet hätten, in Nürnberg „eine Taschenlampe aufgestellt“ zu haben. Die Bundesanwaltschaft nahm daraufhin Kontakt zu Mehmet O. auf und legte ihm Bildmaterial vor. Dabei erkannte er überrascht eine Frau, die ihm „nicht mehr aus dem Kopf ging“. Es war eine enge Freundin von einem der Täter*innen des NSU. Mehmet O. konnte sich nicht genau erinnern, woher er sie kannte, vermutete aber, dass sie sich vor dem Anschlag in seiner Kneipe aufgehalten hatte.
Diese späte Erkenntnis brachte zwar Bewegung in den Fall, führte jedoch nicht zu einer juristischen Aufarbeitung. Der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München schloss das Attentat aus „verfahrensökonomischen Gründen“ aus dem Verfahren aus. Es hieß, der Anschlag sei für die Hauptverurteilung nicht relevant. Für Mehmet O. und viele Beobachtende ist dies ein weiteres Beispiel dafür, wie rechte Gewalt, insbesondere gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, systematisch bagatellisiert wurde.
Zivilgesellschaftliche Initiativen wie „Das Schweigen durchbrechen“ fordern deshalb eine vollständige Anerkennung und Aufarbeitung des Anschlags. Am 25. Jahrestag des Attentats im Juni 2024 war Mehmet O. erstmals öffentlich anwesend. Die Stadt Nürnberg ehrte ihn mit der Aufstellung der „Verkehrsschilder der Gerechtigkeit“ des Künstlers Johannes Volkmann. Bürgermeister Marcus König traf Mehmet O. persönlich, um ihm Anerkennung auszusprechen. Für das Opfer war dies ein symbolisch wichtiger Schritt, doch das jahrzehntelange institutionelle Versagen bleibt.
Der Fall der Pilsbar „Sonnenschein“ zeigt eindrücklich, dass der NSU-Komplex nicht erst mit den Morden ab 2000 begann. Bereits 1999 wurde ein Sprengstoffanschlag verübt, dessen rechtsterroristischer Hintergrund lange nicht anerkannt wurde. Der Umgang der Ermittlungsbehörden mit dem Anschlag auf Mehmet O. steht exemplarisch für die Täter-Opfer-Umkehr und das institutionelle Versagen, das den gesamten NSU-Komplex kennzeichnet. Ein Versagen, das bis heute wirkt und das Vertrauen vieler Betroffener in den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat.
- Vgl. Miller, Jonas/ Graßer-Reitzner, Elke: : Heute vor 25 Jahren: Das Rätsel um den ersten NSU-Anschlag; in: BR24 am 23.06.2024. ↩︎
- Vgl. Kowalska, Patrycja: Der vergessene Anschlag des NSU., in: NSU-Watch, 2019. ↩︎
